Ort: Carolas Wohnung in Hannover
Nach dem Essen, die Tochter war schon weg, räumten wir noch die Küche auf. Danach wollte Carola nur noch ins Bett. Sie wartete gar nicht mehr auf mich, der noch in der Küche beschäftigt war, sondern ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen, und verschwand ins Schlafzimmer. Alles, so als ob ich gar nicht anwesend wäre, ohne mich überhaupt zu beachten. Langsam fragte ich mich, ob es Carola nicht lieber gewesen wäre, wenn ich, statt erst morgen früh, schon heute Abend mich Richtung Lübeck verkrümelt hätte. Da jetzt aber keine Straßenbahn mehr zum Bahnhof fuhr, und ich auch nicht wusste, ob in der Nacht überhaupt noch ein Zug Richtung Hamburg abfahren würde, machte auch ich mich auf den Weg ins Bett.
Im Bett war Carola mindestens genauso abweisend wie gestern. Das war nicht einfach müde und schlafen wollen. Das war was anderes. Wie letzte Nacht hatte ich das Gefühl neben einem Eisblock zu liegen, und ich wollte nicht noch einmal eine ganze Nacht über dieses Gefühl haben.
„Sag mal, was ist mit dir los.“
„Gar nichts.“ Der Ton war genauso kalt, wie damals, als sie mir in Lübeck, nach meiner ersten Schwedischkursstunde gesagt hatte, dass ich ja dann schon neue Freunde für Lübeck gewonnen habe, wenn die Teilnehmer des Kurses so nett wären. Oder wie kurz darauf bei mir zu Hause, als von ihr: „Du stellst die falsche Frage“, gekommen war.
„Mein Gott. Jetzt hör endlich auf so zu tun, als ob nichts los ist. Du benimmst dich so, als ob du mich am liebsten aus dem Bett schmeißen würdest. Genauso, wie du es ja wohl schon am liebsten gestern getan hättest.“
Carola hatte sich, als sie ins Bett gestiegen war, wie bereits letzte Nacht, mit dem Rücken zu mir gelegt. Jetzt drehte sie sich auf den Rücken und schaute starr auf die Zimmerdecke. Sie druckste regelrecht herum. Sie wollte nicht antworten.
„Was ist das hier? Gestern warst du den Tag über noch richtig begeistert, mich hier zu haben, hast mich geliebt. Und jetzt benimmst du dich, als ob ich Aussatz oder die Pest hätte.“
Carola druckste in einer Art und Weise herum, das war schon nicht mehr feierlich. Es schien, als ob sie was sagen wollte, aber nicht konnte. Sie starrte dabei eisern, mit einem steinernen Gesichtsausdruck, die Zimmerdecke an.
„Sag doch mal, was du eigentlich willst“, fing ich wieder an.
Carola hörte auf herumzudrucksen. Sie erzählte einiges, was ich nicht verstand. Es war irgendwie wirres Zeug, von wegen, sie wüsste auch nicht, was los ist, und Ähnliches. Eigentlich fehlte nur noch der Satz: „Du stellst die falsche Frage“, um wieder die Sofasituation, wie von vor vier Wochen, bei mir in der Wohnung zu haben. Aber dieser Spruch kam diesmal nicht. Dann schwieg sie wieder und starrte weiter auf die Zimmerdecke.
Auf einmal sagte Carola, nach dem mehrere Minuten allgemeines Schweigen geherrscht hatte, mit klarer Stimme, jedes Wort deutlich betonend: „Ich wünsche mir von einem fünfundzwanzigjährigen mit einem Waschbrettbauch die ganze Nacht genommen zu werden.“
Das saß. Das war schon mindestens ein Doppel-Batsch. Wenn nicht sogar ein Dreifacher.
Ich hatte das Gefühl, als ob man mir eins mit einem Baseballschläger über den Schädel gezogen hatte, und starrte völlig verdutzt zu Carola hinüber.
„Sag das noch mal. Was willst du?“
„Ich möchte jetzt von einem Fünfundzwanzigjährigen mit Waschbrettbauch die ganze Nacht durchgevögelt werden“, kam es wieder glasklar, eiskalt, deutlich betont ausgesprochen, von Carola zu mir herüber.
Carola starrte mit ihrer, mir schon bekannten, versteinerten Gesichtsmaske, weiterhin zur Zimmerdecke. Das, was sie gerade von sich gegeben hatte, war, so starr, wie sie auf die Zimmerdecke schaute, kein Scherz und auch nicht irgendwie ironisch gemeint.
„Was soll das denn jetzt.“
„Ich wünsche mir von einem Fünfundzwanzigjährigen mit einem Waschbrettbauch die ganze Nacht durchgevögelt zu werden“, kam es noch einmal klar und deutlich betont, mit einer sogar noch etwas lauteren Stimme.
„Das ist jetzt nicht dein ernst.“
„Doch. Warum nicht“, kam es mit einem richtig pampigen Ton, als ob Carolas Wunsch das Selbstverständlichste auf der Welt wäre, und sie meine Verwunderung darüber überhaupt nicht versteht.
Das gab es doch gar nicht. Da lag die Frau neben mir, die doch noch vor Kurzem, voller Panik bei der Vorstellung gewesen war, ich würde vielleicht nicht nach Hannover, sondern doch noch nach Schweden ziehen müssen, und nun erklärte sie, während ich neben ihr im Bett lag, absolut todernst, sie möchte gerne von einem fünfundzwanzigjährigen mit Waschbrettbauch, die ganze Nacht durchgevögelt werden.
Ich war absolut erschlagen.
Carola war richtig zickig, behielt dabei die Zimmerdecke fest im Blick. Wobei wohl zickig wirklich nicht der richtige Ausdruck für das war, was ich da gerade erlebte. Und je erstaunter, erschrockener und auch wütender ich wurde, desto zickiger und maskenhafter wurde sie. An die Einzelheiten, die folgten, kann ich mich nicht mehr erinnern, aber irgendwie kam sogar noch ein richtiges Streitgespräch zustande, das dann noch eine ganze Zeit anhielt. Carola gab ständig irgendwelche zickigen Antworten. Sie brachte nichts Vernünftiges aus ihrem Mund zustande. Es war ihr anzumerken, dass sie dieses Gespräch gar nicht führen wollte. Sie wollte nur in Ruhe gelassen werden. Am liebsten hätte sie es wohl gehabt, wenn ich mitten in der Nacht Bett, Wohnung und Stadt verlassen hätte.
Irgendwann hatten wir in dieser Nacht sogar noch einmal Sex. Das hatte aber nichts mit so etwas wie „Versöhnungssex“ zu tun, denn wir hatten uns nicht versöhnt, sondern war irgendwie nur Spannungsabbau gewesen. Wie das überhaupt in der Nacht zustande gekommen war, weiß ich beim besten Willen heute nicht mehr. Wir beide hatten zwar jeder sogar einen Orgasmus, aber es war kein zärtlicher Sex gewesen. Es war wirklich nur Aggressionsabbau gewesen.
Sex mag zwar zum Aggressionsabbau besser sein, als gegenseitig aufeinander einzuschlagen, oder mit Flaschen und Porzellan zu werfen, aber normal war das alles trotzdem nicht.
Nach dem Sex schlief Carola, diese Nacht sogar im gemeinsamen Bett, ein. Mir war nicht so recht nach Schlafen zumute.
Nach der Nacht mit dem unzärtlichen Sex saßen wir am Sonntagmorgen, eigentlich war es noch Nacht, ganz früh in Carolas Küche, um das unsägliche Gespräch von letzter Nacht weiter zu führen. Carola wollte auf einmal keine feste Beziehung mehr. Sie wollte nicht, dass wir zusammenzogen. Es war ihr zu eng. Sie wollte nur noch eine lockere Beziehung. Sie wollte auch mit anderen Männern ins Bett. Noch hatte sie das nicht gemacht. „Das hättest du bemerkt“, sagte sie, aber: „Ich will mich einfach nicht festlegen.“
Und alles, was Carola brachte, gab sie mit einem steinernen Gesichtsausdruck von sich, dass einem richtig gruselig davon wurde.
Ich war, wie so oft in der letzten Zeit, einfach nur noch völlig irritiert. Mein Gott. Vor sechsunddreißig Stunden hatte sie noch gedrängelt, dass ich so schnell wie möglich nach Hannover ziehen soll. Da hatte sie sogar noch panische Angst davor gehabt, dass man mir doch noch einen Job in Schweden vermitteln würde, und sie mich doch noch verliert. Und jetzt das hier.
Also legte ich los: „Mein Gott, was hast du auf einmal. Du hattest noch dieses Wochenende, in der ersten Nacht, Angst gehabt, dass die ARGE mich doch noch nach Schweden vermittelt. Und jetzt willst du davon nichts mehr wissen? Mein Gott, was soll das. Ich hab mir in Lübeck den Arsch aufgerissen, dass die sich dort alle darum kümmern, mich in Hannover unterzubringen.“
„Woher soll ich wissen, dass du das wirklich ernst meinst, und nicht einfach nur so sagst“, kam ein verzweifelter Ausruf. Carolas Stimmung war plötzlich total gekippt. Ihr Gesicht war keine starre Maske mehr. Sie hatte Tränen in den Augen, schaute mich verzweifelt, ja völlig aufgelöst an. Es war das gleiche Gesicht, das vor vier Wochen bei mir auf dem Sofa, völlig verzweifelt behauptet hatte, dass ich das Beste wäre, was ihr je in ihrem Leben passiert sei.
„Glaubst du mir etwas nicht, dass ich alles daran setze, nach Hannover zu kommen? Ich hab dir doch erzählt, dass ich alles angeleiert habe. Du hattest vorletzte Nacht tierische Angst, dass man mich doch noch nach Schweden vermitteln wird. Mädchen, das wird nicht passieren. Niemand versucht mich nach Schweden zu vermitteln. Ich komme nach Hannover.“
„Woher soll ich das wissen? Du kannst mir doch viel erzählen.“
Carola war inzwischen völlig aufgelöst. Nachdem sie zuerst hinter einer steinernen Maske so getan hatte, als ob sie unbedingt andere Männer haben wollte, war sie jetzt völlig verzweifelt, zerfloss regelrecht vor Panik, dass ich es nicht ernst mit ihr meine, ich nicht alles daransetzen würde, nach Hannover zu kommen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf platzen würde. Die Wechselbäder der Gefühle, die totalen Widersprüche ihrer Wünsche, die Carola auf mich lud, hatten es in sich. Da kam ich irgendwie nicht mehr mit.
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Berthold Kogge